<< zurück | Post ID # 1562 | 08.12.2019

Winternacht in den Ardennen, eine wahre Weihnachtsgeschichte von 1944

Am Heiligen Abend 1944, mitten in der Ardennenschlacht, hatten Mutter und ich unerwartete Gäste. Ich war 12 Jahre alt, als wir in einer Aprilnacht 1944 durch einen schweren Bombenangriff auf Aachen obdachlos wurden. Unser Wohnhaus mit der dazugehörenden Bäckerei war nur noch ein rauchender Trümmerhaufen. Zusammen mit meinen Eltern wurde ich nach Neuwied am Rhein evakuiert.

Mein Vater, der Bäckermeister Hubert Vincken, wurde dort für die nächsten Monate Backstubenleiter beim Obermeister, bis dessen Bäckerei ebenso durch Fliegerschaden ausfiel. Nun drohte meinem Vater, 48 Jahre alt, die Einberufung zur Wehrmacht, doch der Obermeister sorgte dafür, dass er zur Arbeit in einer Heeresbäckerei dienstverpflichtet wurde. Irgendwo im deutsch-belgischen Grenzgebiet der Ardennen wurde das Brot für die mit Schanzarbeiten am Westwall beschäftigten Baukolonnen gebacken. Dorthin wurde mein Vater abkommandiert.

Durch Frankreich rollte die alliierte Invasion unaufhaltsam ostwärts.

Viele glaubten, der Krieg gehe im Herbst zu Ende und planten, sich von der Front überrollen zu lassen. Je früher, desto besser. Kaum jemand fürchtete den westlichen Gegner. So kam mein Vater eines Abends mit einem Kübelwagen der Wehrmacht nach Neuwied, lud meine Mutter Elisabeth und mich auf und brachte uns in einer stundenlangen Nachtfahrt in seine Nähe. Dort hatte er eine Unterkunft für uns vorbereitet. In einer leestehenden Baracke der »Organisation Todt«, die einsam und versteckt an einer Lichtung stand, sollten wir die nächsten drei, vier Wochen ausharren. “Dann haben wir den Krieg hinter uns”, sagte mein Vater voller Optimismus.

Leider sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen.Der Herbst zog sich dahin, die Front versteifte sich und im Dezember wagte Hitler seine Ardennenoffensive. Da waren wir immer noch in unserer Hütte, tief eingeschneit und seit Wochen ohne Verbindung zur Außenwelt. Mein Vater, der uns bis in den November hinein wöchentlich Verpflegung gebracht hatte, kam infolge der Schneewehen nicht mehr zu uns durch. Unsere Hütte hatte zwei verglaste Fenster und einen gemauerten Ofen, auf dem sich kochen ließ. Holzscheite lagen bereit. Grundnahrungsmittel hatten wir ausreichend: Kartoffeln, Mehl, Nudeln und Haferflocken. Bevor der Schnee fiel, ging ich oft ins Tal zu einer Kartoffelmiete, an der die dort häufigen Wildschweine ein Loch gebuddelt hatten. Dort holte ich ein einem Rucksack so viel und so oft ich nur konnte.

In einem verlassenen Gehöft fand ich eine Menge Kerzen und einen einsamen, hungrigen Hahn, der mir wie ein Hündchen folgte. Sein Appetit war enorm, und er räumte tüchtig unter den Haferflocken auf. Das blieb nicht ohne Folgen, denn mit seinem Gewicht nahm auch die Lautstärke seines Krähens zu, und wir fürchteten, dass er auf uns aufmerksam machen könnte. Vor Weihnachten musste Mutter ihn zum Schweigen bringen.

Schon seit über eine Woche hörten wir den aus den Tälern zu uns dringenden Kampflärm. Dort unten tat sich etwas, und wir fassten neuen Mut. Mutter hoffte, Vater sei gesund in Kriegsgefangenschaft geraten. Bald sei auch für uns der Krieg vorbei.

Am 24. Dezember schien die Wintersonne an einem wolkenlosen Himmel. Den ganzen Tag über hörten wir das dumpfe Dröhnen alliierter Kampfflugzeuge, die völlig ungestört mit ihrer Bombenlast über uns hinwegzogen. Es war bitterkalt. Mit der Dunkelheit kam die Stille, und der Himmel gehörte wieder den Sternen, die über unsere tiefverschneite Lichtung funkelten. Mutter, die im spärlichen Licht einer Kerze am Ofen hantierte, sagte vor sich hin: “Wenn man nur wüsste, was aus Vater geworden ist. Wo mag er jetzt schon sein?” Ich saß im Halbdunkel und wartete ungeduldig auf die Hühnersuppe. Auf einmal klopfte es an unsere Tür. Erschrocken zuckte ich zusammen und sah, wie Mutter hastig die Kerze ausblies. Dann klopfte es
wieder. Wir fassten uns ein Herz und machten auf. Draußen, wie Phantome vor der schneebedeckten Lichtung, standen zwei Männer mit Stahlhelmen. Einer von ihnen sprach zu Mutter in einer Sprache, die wir nicht verstanden, und zeigte auf einen Dritten, der im Schnee lag. Wir begriffen sofort, dass diese Männer amerikanische Soldaten waren. Feinde! Mutter  stand regungslos neben mir. Sie waren bewaffnet und hätten ihr Eintreten erzwingen könne, doch sie standen da und fragten mit den Augen.

Und der im Schnee Sitzende schien mehr tot als lebendig. “Kommt rein” sagte meine Mutter mit einer einladenden Geste. Die Soldaten nahmen ihren Kameraden und streckten ihn auf meinem Strohsack aus. Keiner von ihnen verstand Deutsch, doch als einer es mit seinem Französisch versuchte, konnte er sich verständlich machen. Er glaubte wohl, wir seien Wallonen. Mutter hatte als Kind im benachbarten Belgien einige Jahre die Schule besucht und dort Französisch gelernt. Während Mutter nach dem Verwundeten sah, half ich den beiden anderen beim Ausziehen ihrer schweren Mäntel. Sie machten einen erschöpften Eindruck. Am Ofen sitzend, wich die Kälte von ihnen und mit der Wärme stellten sich auch die Lebensgeister wieder ein.

Wir erfuhren, dass der stämmige, dunkelhaarige Bursche Jim hieß; sein Kamerad, größer und schlanker, war Ralph. Harry, der Verwundete, schlief nun auf meinem Bett; sein Gesicht so weiß wie Schnee. Sie waren Versprengte, hatten ihre Einheit verloren und waren seit Tagen im Wald umhergeirrt. Unrasiert wie sie waren, sahen sie ohne ihre schweren Mäntel denn noch wie große Jungen aus. Und so wurden sie auch von Mutter versorgt. “Geh, bring noch sechs Kartoffeln”, rief sie mir zu. Sie hatte eine zweite Kerze angezündet und schnitt die gewaschenen ungeschälten Erdäpfel in unsere Suppe. Sie zu schälen galt damals bei uns als Verschwendung.

Während Jim und ich Mutter zuschauten, sah Ralph nach Harry. Er hatte viel geblutet, nun lag er teilnahmslos und still. Mutters Suppe verbreitete schon längst einen einladenden Duft.

Ich war gerade dabei, den Tisch zu decken, da klopfte es wieder an der Tür. In der Erwartung, dass noch mehr versprengte Amerikaner draußen standen, öffnete ich ohne Zögern. Ja, es waren Soldaten, vier Mann, und alle bis aufdie Zähne bewaffnet! Ihre Uniform war mir wohlvertraut nach fünf Jahren Krieg. Das waren Soldaten der Wehrmacht, das waren unsere! Ich war vor Schreck wie gelähmt. Obschon ich noch ein Kind war, wusste ich: Wer den Feind in irgendeiner Weise begünstigt, wird erschossen!

Kam nun alles zu einem furchtbaren Ende? Mutters Gesicht konnte ich nicht sehen, als sie heraustrat, doch ihre gefasste Stimme beruhigte mich etwas: “Sie bringen aber eine eisige Kälte mit, meine Herren. Möchten Sie mit uns essen?”, entfuhr es ihr. Damit schien sie den richtigen Ton gefunden zu haben. Die Soldaten grüßten freundlich und waren sichtlich froh, im Grenzland zwischen den Fronten Landsleuten zu begegnen. “Dürfen wir uns hier etwas aufwärmen?”, fragte der Rangälteste, ein Unteroffizier. “Vielleich haben sie irgendwo Platz für uns bis zum Morgen?” “Natürlich”, antwortete Mutter in aller Herzlichkeit. “Sie können auch eine warme Suppe mit uns essen”. Die Deutschen lächelten, als sie das Aroma durch die halboffene Tür rochen. “Doch”, fügte Mutter in einem aus schierer Angst erwachsenden Todesmut hin, “es sind bereits drei Durchfrorene hier, um sich etwas aufzuwärmen. Ich bitte sie um Himmelswillen, machen sie jetzt bloß keinen Krawall”.

Der Unteroffizier schien zu begreifen: “Wen haben sie da drinnen?” verlangte er barsch zu wissen. Amis?” Mutter sah jeden einzelnen an. “Hört mal”, sagte sie langsam, “Ihr könntet meine Söhne sein, und die da drinnen auch. Einer von ihnen ist verwundet, und der ist gar nicht gut dran. Und die beiden anderen sind so hungrig und müde wie ihr. Es ist Heiligabend”, sie sprach jetzt zu dem Unteroffizier, “und hier wird nicht geschossen!” Der starrte sie an. Für zwei, drei endlose Sekunden hörte man nur den Wind. Ich stand da und bibberte, doch Mutter nutzte den Moment. “Genug geredet!”, sagte sie entschlossen, “legt das Schiesszeug da auf das Holz und kommt schnell rein, sonst essen die anderen alles auf”.

“Tut, was sie sagt”, knurrte der Unteroffizier, “wir haben Hunger”. Wortlos legten sie ihre Waffen in den winzigen Schuppen, in dem wir unsere Holzscheite aufbewahrten: drei Karabiner, zwei Pistolen, ein leichtes MG und zwei Panzerfäuste. Währenddessen war den Amerikanern nicht verborgen geblieben, dass eine Gruppe “Krauts” vor der Türe stand und mit dem Mut der Verzweiflung waren sie willens, sich zur Wehr zu setzen. Mutter sprach indessen hastig mit Jim auf Französisch. Er sagte etwas zu Ralph, und ich sah erleichtert, wie auch die Amerikaner mit sich reden ließen. Sie machten mit!

Als nun alle in der kleinen Stube waren, schienen sie etwas ratlos zu sein. Wie man sich als Soldat in einer solchen Situation verhält, hatten ihre Ausbilder nicht mit ihnen besprochen. Mutter war währenddessen in ihrem Element. Lächelnd suchte sie für jeden einen Sitzplatz. Wir hatten nur drei Stühle, aber Mutters Bett war groß. dorthin setzte sie zwei der später Gekommenen, neben Jim und Ralph. Man schwieg sich an, es lag eine Gespanntheit in der Luft, die sich auf alle übertrug. Mutter machte sich wieder ans Kochen. Aber unser Hahn wurde dadurch nicht größer, und wir hatten vier Esser mehr. “Rasch”, flüsterte sie mir zu, “wasch mir noch ein paar Kartoffeln und schneide sie zweimal durch. Und hol’ noch etwas Haferflocken. Wenn wir die Jungen erst einmal satt haben, wird sich alles geben”.

Während ich bei unsren Vorräten war, hörte ich Harry laut aufstöhnen. Einer der Deutschen setzte seine Brille auf und beugte sich über die Wunde des Amerikaners. “Sind sie Sanitäter?”, fragte Mutter. “Nein”, erwiderte er, “aber ich habe bis vor wenigen Monaten in Heidelberg Medizin studiert”. Dann erklärte er den Amerikanern in, wie mir schien, recht fließendem Englisch, Harry’s Wunde sei dank der Kälte nicht entzündet. “Er hat sehr viel Blut verloren”, sagte er zu Mutter. “Er braucht jetzt einfach Ruhe und kräftiges Essen”. Die Spannung hatte sich gelöst. Selbst mir kamen die Soldaten, als sie so neben einander saßen, alle noch sehr jung vor.

Der Unteroffizier war mit seinen dreiundzwanzig Jahren der älteste. Am linken Ärmel seiner Uniformjacke trug er den Kubanschild, der ihn als Ostfrontkämpfer auswies. Aus seinem Brotbeutel nahm er eine Flasche Rotwein, und ein anderer brachte ein großes Stück Kommissbrot auf den Tisch, das Mutter in Scheiben schnitt. Von dem Wein füllte sie etwas in einen Becher, “für Harry”. Der Rest wurde unter uns aufgeteilt. Zwei Kerzen flackerten auf dem Tisch, dazwischen stand der Kessel mit der dampfenden Suppe, auf einem Teller lag das geschnittene Brot und jeder hatte etwas Wein. Ich hatte zwischen Jim und Ralph Platz gefunden.

Am Kopfende saß Mutter auf einer improvisierten Sitzgelegenheit. Auf sie waren jetzt alle Blicke gerichtet. In meinem Elternhaus war es nicht üblich gewesen, vor dem Essen gemeinsam zu beten. Mit uns am Tisch saßen normalerweise die Gesellen, der Lehrling und die Hausgehilfin. Wer da beten wollte, der tat das still für sich. Das war nun alles anders. Es war eine gehobene, fast feierliche Stimmung. Und niemand wäre es eingefallen, sich ohne weiteres über die Mahlzeit herzumachen. Ralph erfasste die Hände der neben ihm Sitzenden, Jim tat das gleiche, und schon saßen wir alle nach amerikanischer Sitte händehaltend um den Tisch, um unser aller Herrgott zu danken. Mutter sprach für uns in ergreifender Inständigkeit, sie schloss mit den Worten “und bitte, mach’ endlich Schluss mit diesem Krieg”. Als ich mich in der Tischrunde umsah, bemerkte ich einige Tränen, die sich den Kriegern aus den Augen stahlen. Niemand schämte sich, sie alle hatten sich ihre Menschlichkeit bewahrt. Nun waren sie ganz einfach wieder die jungen Söhne ihrer sich um sie sorgenden Eltern, die einen aus Amerika, die anderen aus Deutschland, alle fern von zu Hause.

Nach dem Essen gab es starken amerikanischen Nescafé und Ananaspudding, den Jim in kleinen olivgrünen Dosen aus seiner weiten Manteltasche holte. Dann wurden Zigaretten ausgetauscht, hier “Eckstein”, dort “Chesterfield” und schon hatte jeder der Gäste eine im Mund. Doch der um Harry besorgte Medicus sprach ein Machtwort: “Get out, an die frische Luft!” Draußen war eine vor Kälte klirrende, strahlende Winternacht. Der Himmel war mit Sternen übersät und Mutter forderte uns auf, den am hellsten leuchtenden, den Sirius, anzusehen: “Das ist unser Stern von Bethlehem, der kündigt den Frieden an”. Niemand sprach ein Wort. Aus der Ferne drang das dumpfe Bollern schwerer Artillerie an unsere Ohren. Dennoch schien uns jetzt der Krieg sehr weit und fas vergessen. Dann gingen wir schlafen, die Soldaten auf dem Fußboden auf ihren dicken Mänteln, ich fand in Mutters Bett noch Platz.

Harry erwachte im Morgengrauen und Mutter flößte ihm etwas ein. Sie hatte aus amerikanischem Eipulver, dem Rest Rotwein und viel Zucker eine Krafttrunk gequirlt, der es in sich hatte. Ob es auch schmackhaft war, erfuhr ich nie, doch Harry war bei Tagesanbruch sichtlich kräftiger. Zum Frühstück aß er mit uns anderen den Rest der Hühnersuppe. Dann wurden aus zwei starken Stöcken und einer deutschen Zeltbahn eine Trage für Harry gemacht. Der Unteroffizier zeigte Jim und Ralph auf einer Karte den Weg zu den amerikanischen Linien. Ein deutscher Kompass wechselte den Besitzer. “Passt auf, wie ihr geht. Viele Wege sind vermint. Und wenn ihre eure Jabos kommen hört, winkt wie der Teufel!” Der Mediziner übersetzte alles ins Englische. Dann bewaffneten sie sich wieder, und es folgte der Abschied. Herzlicher konnte es auch unter Freunden nicht sein! Sie umarmten sich fröhlich, man versprach, sich wiederzusehen: “As soon as this dam’n war is over!” Jim und Ralph küssten Mutters Wangen, Harry wurde auf seine “Sänfte” gesetzt, und mit Hallo, aber auch mit etwas Wehmut trennten sich unsere Wege.

Manchmal drehten sie sich um und winkten. Wir schauten ihnen nach, bis sie im Wald verschwunden waren. “Das sind Menschen genau wie wir”, sagte der Unteroffizier halblaut.

Den Krieg und jene Macht in den Ardennen vergaß ich nie. Oftmals, wenn ich am winterlichen Tropenhimmel den hell glitzernden Sirius erblicke, scheint er mich zu grüßen wie einen alten Freund. Unwillkürlich gedenke ich dann meiner Mutter und jener jungen Soldaten, die als Feinde zusammentrafen und als Kameraden auseinandergingen.

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