<< zurück | Post ID # 19736 | 04.12.2024

# OMAs Advent 2024 – Türchen 4: Hören, Sehen, Verstehen

Im heutigen Türchen haben wir einen Gastbeitrag für Euch: Sandra Werner-Kreßmann schreibt auf Facebook über ihre “inklusiven” Erfahrungen und vieles andere und wir lesen Ihre Beiträge sehr gern.

Wir freuen uns sehr, dass wir davon etwas veröffentlichen dürfen. Es zeigt, wie viel sich mit kleinen Gesten bewegen lässt und wie wichtig das Füreinander-Einstehen ist.

Hören, Sehen, Verstehen

Beim Betreten des Klassenzimmers spüre ich, dass etwas anders ist. Ungewohnte Schweigsamkeit der Hände, gesenkte Blicke, um mir nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Ich überlege. Stelle meine Tasche ab und setze mich. Einer meiner jungen Menschen gibt einem Mädchen ein Zeichen, nur halbherzig vor mir verborgen. Es fasst sich daraufhin an die Ohren, zieht schnell die Hörgeräte ab und lässt sie in der Tasche verschwinden.

Mein Blick streift die Köpfe meiner jungen Menschen. Aha – alle Hörgeräte sind weg! Die Hände unter den Tischen versteckt, die Augen auf die Tischplatte gerichtet, sitzen sie da im Halbkreis vor mir. Und werfen einander verstohlene Blicke zu. Sie möchten nicht mit mir sprechen, warten darauf, wie ich reagiere. Schimpfe ich? Stampfe ich mit dem Fuß auf den Boden, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen? Gehe ich zu jedem einzelnen von ihnen, tippe auf die Schulter? Beuge ich mich tief hinab, um ihre Gesichter zu sehen? Sie warten. Und ich? Mache nichts davon.

Stattdessen stelle ich mich an die Tafel, klappe die zwei Seitenteile rechts und links so weit hinter mir zu, dass ich mich gerade noch zwischen den Tafeln bewegen kann und sie nichts mehr sehen, und beginne mit Kreide auf die grüne Fläche zu zeichnen. Es wird unruhig im Raum. Ich muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass sie neugierig geworden sind. Kenne sie schließlich lange genug. Ich bleibe hinter der Tafel versteckt, gebe vor, sie nicht zu hören. Schließlich stampft einer mit dem Fuß auf, das Zeichen für mich, dass nun doch Gesprächsbereitschaft besteht.

Vorsichtig klappe ich die Tafel genau so weit auf, dass ich wieder vollständig zu sehen bin ohne meinen Tafelanschrieb zu erkennen zu geben. “Was ist los?”, frage ich mit meinen Händen. Zögern. Gegenseitiges Zunicken. “Was hast du an die Tafel geschrieben, Frau Werner?” Ich schüttle den Kopf. “Ihr zuerst, dann ich!” Sie schauen sich an. “Wir wollen keine Hörgeräte mehr tragen!”, antworten mir gleich mehrere Hände. “Und warum? Bitte erklärt es mir!” Wieder Zögern. “Sie drücken, das tut mir weh!”, sagt einer. “Alles ist zu laut, ich bekomme Kopfschmerzen”, offenbart ein anderer junger Mensch. Ich nicke. Und warte. Der wichtigste Grund wurde noch nicht genannt, das spüre ich.

“Die Leute schauen uns an. In der Stadt, in der Straßenbahn, im Supermarkt. Immer! Wir sind doch keine Außerirdischen. Wir wollen das nicht!” Auf dem Gesicht meines jungen Menschen spiegelt sich seine Traurigkeit. “Ohne Hörgeräte sehen wir normal aus, wie alle!”, kommt ihm einer zur Hilfe. “Ich glaube, die Leute denken, ich bin dumm, weil ich gehörlos bin. Ich will das nicht!”

So viel Verzweiflung ist zu spüren. Und dann sagt ein Mädchen: “Frau Werner, du verstehst das nicht. Du brauchst keine Hörgeräte. Du weißt nicht, wie wir uns fühlen, wenn alle gucken!” Jetzt ist es raus. Sie ist erleichtert. Ich auch. Es braucht Mut und Vertrauen, es auszusprechen.

Nachdenklich bleibe ich am Mittag im Klassenzimmer zurück. Sie haben recht, ich kann nicht wissen, wie sie sich fühlen.

Und so führt mich mein Weg an diesem Tag zur Akustikerin, die mir zuerst ungläubig, dann amüsiert, schließlich erstaunt und am Ende begeistert zuhört. Und danach vollbringt sie für die Zeit damals ein kleines Wunder! Einige Tage später besuche ich sie erneut. “Es wird drücken, das sage ich gleich. So bunt geht nicht mit weichem Material!”, erklärt sie bedauernd. Ich bin glücklich, halte genau in meinen Händen, was ich mir gewünscht habe. Nicht nur knallbunt, sondern auch noch mit Glitzersteinchen verziert. Also, wenn ich damit nicht auffalle…. “Wollen Sie sie nicht mal anprobieren?” Doch ja, natürlich. Vor lauter Entzücken habe ich das wichtigste vergessen.

Am nächsten Morgen bin ich vor meinen jungen Menschen im Klassenzimmer. Ich habe in den vergangenen Tagen kommentarlos hingenommen, wenn sie ihre Hörgeräte nicht tragen wollten. Heute warte ich, bis alle da sind, dann streiche ich wie beiläufig meine langen Haare hinter die Ohren. “Frau Werner, was hast du da im Ohr?” Auf diese Frage muss ich nicht lange warten. “Ihr habt gesagt, ich verstehe euch nicht. Das stimmt. Aber ich möchte es verstehen. Jetzt habe ich auch was im Ohr, wie ihr!”

Sie schauen mich an, können es nicht richtig glauben. Ein Mädchen steht auf und stellt sich neben mich. Zaghaft werden meine Ohren begutachtet. Ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen. “Bist du jetzt schwerhörig, Frau Werner?” Vorsichtige Nachfrage. “Nein”, antworte ich kopfschüttelnd. Sie schauen sich an. “Machst du das für uns?” Ich nicke. “Ja!”

In den nun folgenden Wochen erfahre ich, wie schmerzhaft Druckstellen sind. Tapfer stopfe ich mir trotzdem jeden Tag aufs Neue die Passstücke ins Ohr. Ich trage sie auch beim Einkaufen, beim Treffen mit Freunden, bei allen Freizeitaktivitäten. In einer Zeit, in der Ohrpasstücke meist transparent oder hautfarben gehalten sind, fällt meine “bunte Ohrmuschel” auf. Ich spüre die Blicke, die Neugier dahinter, manchmal auch das Mitleid. Und ich beginne zu begreifen, was das für meine kleinen Menschen bedeutet.

Gleichzeitig tut sich auch bei ihnen etwas. Nicht von jetzt auf gleich, aber im Laufe der Tage. Sie beginnen, ihre Hörgeräte in meinem Unterricht wieder zu tragen.

Kurze Zeit darauf sitzen wir in der Straßenbahn, unternehmen einen Ausflug. Selbstverständlich unterhalten sich meine jungen Menschen untereinander und mit mir mit ihren Händen. Ein Junge fragt mich: “Frau Werner, die Frau da drüben guckt die ganze Zeit deine Ohren an. Hast du das gesehen?” “Ja, ich weiß.” “Das ist nicht schön! Warum guckt sie? Das nervt!” Ich lächle ihn an. Dann spreche ich die Frau freundlich an: “Entschuldigen Sie, meine Schüler hier haben bemerkt, dass Sie meine Ohren anschauen” Verlegen schaut sie erst mich, dann meine jungen Menschen an. “Äh, ja, nun….” Schweigen, dann ein neuer Versuch. “Um ehrlich zu sein: Mir sind tatsächlich die bunten Teile in Ihren Ohren aufgefallen. Aber noch viel mehr fasziniert mich, wie Sie alle sich mit den Händen unterhalten. Ich könnte da stundenlang zuschauen. Würde das auch gerne können. Das begeistert mich. Ich wollte Sie nicht anstarren. Es tut mir leid!” Sie lächelt entschuldigend, beinahe schüchtern.

Eine andere Frau mischt sich ein: “Mir geht es genauso. Ich finde es einfach klasse, wie das mit den Händen geht. Ihre Kinder sind so geschickt, es macht einfach Freude, ihnen zuzuschauen.” Sie stockt. “Ich dachte, dass Sie auch nicht hören können. Wegen der Dinger in Ihrem Ohr. Ich wollte nicht aufdringlich sein.” Sie schweigt. “Ihren Kindern ist es wohl unangenehm, wenn wir gucken, oder?” Ich nicke. “Bitte sagen Sie ihnen doch, dass wir ihre Sprache so toll finden. Und wie gut sie das machen!” Ich gebe es an meine Schüler weiter.

Zugeben würden sie es selbstverständlich niemals, aber ein bisschen Stolz blitzt doch in ihren Gesichtern auf. “Wisst ihr”, erkläre ich, “Anstarren ist wirklich nicht schön. Aber ich glaube, die Leute gucken oft, weil ihr etwas könnt, was die allermeisten Menschen nicht können. Es ist ehrliches Interesse und Bewunderung für euch.”

Diesem Gespräch folgen noch viele weitere, manchmal eine Diskussion, manchmal Beschwichtigung – und immer wieder Begegnungen mit anderen Menschen voller Interesse und Neugier. Ich trage meine bunten Ohrpassstücke noch lange, im Klassenzimmer und bei Ausflügen – für meine jungen Menschen.

Bei ihrer Verabschiedung einige Jahre später gebe ich jedem von ihnen ein kleines Stück davon als Erinnerung mit. Und einen Brief: “Weißt du noch, was ich damals an die Tafel geschrieben habe? ‘Ich bin auf eurer Seite! Immer!’ Vergiss das nicht.” 20 Jahre später habe ich zu fast allen noch Kontakt.

Sandra Werner-Kreßmann

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