Hamburg: Trauerrede von Rolf Becker zur Beisetzung von Esther Bejarano
Abschied von Esther
Dokumentiert. »Mir lebn ejbig – wir leben trotzdem.« Eine Trauerrede zur Beisetzung von Esther Bejarano
Von Rolf Becker
Esther Bejarano, geboren als Esther Loewy am 15. Dezember 1924 in Saarlouis; gestorben am 10. Juli 2021 in Hamburg, hier bei der Feier des 80. Geburtstages von Rolf Becker im Schauspielhaus in Hamburg, 18. April 2015
Rolf Becker, geboren 1935, ist Schauspieler und Synchronsprecher.
Im folgenden dokumentieren wir die Trauerrede des Schauspielers Rolf Becker zur Beisetzung von Esther Bejarano auf dem Jüdischen Friedhof Ohlsdorf in Hamburg, gehalten am Sonntag, dem 18. Juli 2021. (jW)
… siehe, wir haben herausgefunden, dass diese Erde groß genug ist; dass sie jedem hinlänglichen Raum bietet, die Hütte seines Glücks darauf zu bauen; dass diese Erde uns alle anständig ernähren kann, wenn wir alle arbeiten und nicht einer auf Kosten des anderen leben will; und dass wir nicht nötig haben, die größere und ärmere Klasse an den Himmel zu verweisen. (Heinrich Heine, aus: Die romantische Schule, 1833/1836)
Liebe Edna, lieber Joram, liebe Familie,
liebe Freundinnen und Freunde vom Auschwitz-Komitee und von der VVN-BdA,
liebe mit uns Abschied Nehmende – mit den zitierten Worten von Heinrich Heine eröffnete Esther vor wenigen Wochen, am 3. Mai, ihr Erinnern an das Ende des Zweiten Weltkriegs, an ihre Befreiung nach den Leidensjahren in Auschwitz und Ravensbrück, zugleich an unser aller Befreiung von der faschistischen Herrschaft in Deutschland zwischen 1933 und 1945, den dunkelsten Jahren nicht nur deutscher, sondern bisheriger Menschheitsgeschichte.
Abschied von Esther, eurer Mutter, Groß- und Urgroßmutter, liebevolle, aus Leid geborene Stimme für euch, für uns alle. Von Wort zu Wort ihr Ja zum Leben: aufgeschlossen trotz allem und für alles – suchend und fragend, wachsam besorgt, prüfend und zweifelnd. Zornig über zunehmendes Unrecht, Verschweigen, Verfälschen und Lügen, über die nicht gezogenen Konsequenzen aus so viel Geschichte. Warnend, dass die Todesgleise von Auschwitz nicht enden, wenn wir untätig bleiben.
Auch wenn sie nicht sprach, nicht sprechen wollte oder nicht sprechen konnte, im Grenzbereich des Nichtsagbaren, Unaussprechlichen – wie vor acht Jahren auf dem Jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße Berlins, der für sie und mehr als 55.000 jüdische Mitbürger zum Sammelplatz wurde vor dem Abmarsch zum Anhalter Bahnhof und weiter, eingepfercht auf Güterwagen, nach Auschwitz. Es brauchte lange, bis sie Christa Spannbauer auf Fragen für deren und Thomas Gonschiors Film »Mut zum Leben« wieder antworten konnte. Zuvor immer wieder ein Blick auf die angrenzende Schule, in der noch das Klavier ihres ermordeten Onkels steht – der Zugang zu dem vertrauten Instrument war ihr nicht ermöglicht worden.
Esthers Augen, der offene Blick ihrer liebevoll wachsamen Augen – Perspektive, leidvoll gewonnen, widerständig und in Zuversicht weitergegeben, wie mit ihren Liedern, ihrer wunderbaren Stimme: »Mir lebn ejbig – wir leben trotzdem.«
Gemeinsam kämpfen
Es war Esthers Wunsch, dass ich zum Abschied von ihr spreche – einem Abschied, der wie bei allen Menschen, die wir lieben, nicht enden wird. »Liebe – Tod des Todes« (Claus Bremer). Abschied nach mehr als dreißig Jahren einer Freundschaft, die zur Wahlverwandtschaft wurde. Aus Esthers Brief vom 18. April 2015: »… ich wollte immer einen beschützenden Bruder haben, und so habe ich mir Dich ausgesucht. Wie viele gemeinsame Kämpfe gab es, wie viele gemeinsame Veranstaltungen. Gemeinsam streiten, gemeinsam wirken für Gerechtigkeit, gegen jedwede Ausgrenzung von Menschen, gegen die schlimme Asylpolitik in Deutschland und Europa, gegen Ausländerhass, für Völkerfreiheit, für Völkerverständigung.«
Im Herbst 1989 lernten meine Familie und ich Esther in Ramelsloh/Seevetal kennen, bei Günther Schwarberg, der in jahrelanger Arbeit den Spuren der ermordeten Kinder vom Bullenhuser Damm nachgegangen war und mit seiner Frau Barbara Hüsing die heutige Gedenkstätte durchgesetzt und betreut hatte. Esther, singend und sich auf ihrem Akkordeon begleitend: »Sag nie, du gehst den letzten Weg.«
Von Esther an mich wie uns alle gerichtet, ihr wie testamentarisch Verfügtes: »Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig. Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!«
Geschwisterlichkeit im weitesten Sinn – Mitmenschlichkeit leben und einfordern, gegen die Überzahl der Widersacher, ohne Rücksicht auf sich. »Weiche nicht«, Jesaja, 4.10, ob in babylonischer Gefangenschaft, wie vor 2.500 Jahren, oder vor heute drohenden Gefahren faschistischer Anläufe, weiterer Kriege und damit verbundenem Schrecken, Elend, Verzweiflung und Tod. Nicht zurückweichen – Esther hat es vorgelebt, unnachgiebig, trotz Wasserwerfern, Stiefeltritten und Denunziation.
»Sagen, was ist« – Auftritte, um Nachkommende aufzuklären über angeblich Vergangenes und zum Handeln zu ermutigen. Auftritte über Auftritte, um darauf hinzuweisen, dass sich bei zunehmendem gesellschaftlichem Druck erneut Unsagbares ereignen kann, auch ohne dass Rauch aus Verbrennungsöfen aufsteigt.
»Sagen, was ist«, im Sinn von Rosa Luxemburg als »revolutionärste Tat«, forderte Esther auch ein, wenn es, ganz gleich aus welchem Anlass, um ihre Person ging. »Nichts verfälschen, nichts beschönigen, nichts unterschlagen« – das galt für sie auch, als in einer ersten Ausgabe einer Biographie über sie ihre auf Band gesprochenen Berichte verfälscht worden waren: Tief verletzt erarbeitete sie mit Antonella Romeo in monatelanger Arbeit eine neue Fassung ihrer »Erinnerungen«, erschienen 2013 im Laika-Verlag.
»Sagen, was ist« – in diesem Sinn auch mein Versuch, mich in dieser Stunde dem anzunähern, wer Esther und was Esther für uns war. So wenig wir sie auf ihr politisches Anliegen reduzieren wollen, so wenig halten wir es für angebracht, ihr umfassendes Engagement für alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens zu verleugnen.
Gegen die Barbarei
Am 11. April 1988 war Esther zusammen mit Hanne Hiob, der Tochter von Bertolt Brecht, in der KZ-Gedenkstätte unter der Hochstraße innerhalb des Stahlwerks Salzgitter aufgetreten – Gewerkschaftskollegen hatten mir spontan danach geschrieben, auch über das, was Esther ihnen über sich und die Geschichte ihrer Familie erzählt hatte.
Der Besuch der Gedenkstätte im Stahlwerk sei für sie ein Anlass gewesen, öffentlich zu hinterfragen, wie es 1933 zur kampflosen Niederlage der Arbeiterbewegung in Deutschland kommen konnte, die dem Faschismus die Machtübernahme ermöglichte – Anlass zugleich für sie, ins Heute zu fragen, wie wir angesichts der europaweit fortschreitenden Rechtsentwicklung die Widersprüche untereinander die Konfusion und Differenzen zwischen und innerhalb gesellschaftskritischer Gruppierungen und Parteien überwinden. Anlass nicht zuletzt, wieder und wieder zu fordern, Geschichte differenziert zu betrachten, aus Fehlern und Fehleinschätzungen zu lernen, um eine erneute Barbarei wie in Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern – in welcher Form und gegen wen auch immer gerichtet – auszuschließen.
»Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht« – aus einem Brief von Esther vom 8. November 2003 zum zweiten »Bettlermarsch« in Hamburg: »Diese Menschen sind obdachlos geworden, weil sie im Kapitalismus dem Konkurrenzkampf nicht standhalten konnten, weil sie arbeitslos wurden und dann mangels Geld ihre Wohnung gekündigt bekamen und so immer tiefer in den Abgrund gesunken sind. Es ist das System, das unmenschlich, ja menschenverachtend ist. Der Trend geht nach rechts. Wenn dieser Rechtsruck nicht verhindert wird, kann wieder Faschismus mit all seinen schrecklichen Folgen entstehen.«
»Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht« – Esthers Forderung gegen die unmenschlichen Rückführungsaktionen der Roma nach Serbien und ins Kosovo aufzutreten: »Sie sind wie wir in Auschwitz und anderen Lagern als ›unwertes Leben‹ vernichtet worden. Und heute abschieben?«
»Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht« – zur Flüchtlingsfrage, als der Hamburger Senat die Aufnahme der Lampedusa-Flüchtlingsgruppe verweigerte: »Wir können doch nicht heute noch immer Menschen wie Tiere behandeln.« Und zur Begründung der Ablehnung dieser – gemessen an heutigen Flüchtlingszahlen – kleinen Gruppe durch die Hansestadt: »Der Senat muss nur wollen.« Dazu am 21. Mai 2020, anlässlich der beginnenden Coronakrise, in einem offenen Brief: »Hier, im wohlhabenden, geordneten Stadtstaat Hamburg, werden Probleme drastisch deutlich: Es fehlt an sicheren Schlafplätzen für Bedürftige, an ärztlicher Versorgung für Geflüchtete ohne Obdach. Wir fordern: medizinische Versorgung für alle – für jeden Menschen, ob mit oder ohne Papiere, ohne Ansehen der Person oder des Versichertenstatus. Leerstehende Hotels öffnen! In den Lagern für Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen herrschen unmenschliche Zustände. Gerade für die Schwächsten dort und für die Kinder muss dringend gesorgt werden – sofort!«
Esther, am 19. November 2017, erinnernd an die Pogrome von 1992, in einem Brief an die Familien Arslan und Yilmaz (die bei dem Anschlag der Neonazis auf ihr Haus am 23. November 1992 drei Familienmitglieder verloren, jW) in Mölln: »Nazismus und Rassismus wurden in diesem Land auch nach 1945 weder politisch noch gesellschaftlich so konsequent bekämpft, wie er hätte bekämpft werden müssen und können. Er konnte sich auch weiterhin in staatlichen Strukturen festhalten, vor allem im Verfassungsschutz und der Justiz, und ja, sogar noch mehr, er konnte sich wieder ausbreiten.
Um es klar auszusprechen, ohne das Wegschauen und das Decken nach 1945 hätte es das Oktoberfestattentat, die Anschläge von Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln und den NSU so nicht geben können. Es hätten aus den Erfahrungen und Ereignissen des Nationalsozialismus die richtigen Konsequenzen gegen den Hass gezogen werden müssen. Es gab jedoch eine Toleranz gegen Täterinnen und Täter, und Nazis wurden und werden in diesem Land direkt und indirekt, durch politische Kampagnen und das Schweigen und Wegschauen, ermutigt, weiter Hass und Leid zu verbreiten. Das ist der rote Faden von damals zu heute.«
Den Frieden feiern
»Der rote Faden« – vergebliches Hoffen, dass er in absehbarer Zeit abreißt – dazu Esther in ihrer vorletzten Rede am 3. Mai dieses Jahres auf dem Gänsemarkt, die sie mit dem Heine-Zitat eingeleitet hatte: »Heute vor 76 Jahren bin ich in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Lübz befreit worden, befreit von den amerikanischen und den sowjetischen Truppen.
Ihr kennt meine Geschichte: Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt. Mein größter Wunsch für den heutigen Tag war, noch einmal zu erleben, wie Amerikaner und Russen sich wie damals in Lübz umarmen und küssen und gemeinsam das Ende des Krieges feiern! Den Frieden feiern! Jetzt muss ich bis zum nächsten Jahr darauf warten.«
Sätze, die zur Hinterlassenschaft geworden sind wie so vieles, was sie uns vorgelebt hat, unausgesprochener Auftrag, uns jeglichen Kriegsvorbereitungen, jedem Ansatz faschistischer Entwicklung zu widersetzen, »nie mehr zu schweigen, wenn Unrecht geschieht«.
»Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht« – diese Aufforderung bezog Esther auch auf die Unterdrückung, Vertreibung und Ausgrenzung der Palästinenser. Seit dem Tod ihres Schwagers Hans Lebrecht hatte sie kaum noch verlässliche Nachrichten über die politische Entwicklung in Israel und Palästina erhalten. Umso mehr freute sie sich, als sie vor fünf Jahren den israelischen Soziologen und Historiker Moshe Zuckermann auch persönlich kennenlernte. Anlass waren gemeinsame Veranstaltungen in Berlin und Hamburg: »›Losgelöst von allen Wurzeln …‹ Eine Wanderung zwischen den jüdischen Welten«, auf denen sie sich über ihre Geschichte und die ihrer Familien austauschten und übereinstimmend Stellung nahmen zu Ideologie und Wirklichkeit im Israel-Palästina-Konflikt. Aus dem Begleittext der DVD, auf der ihre Gespräche dokumentiert sind: »Esther Bejarano und Moshe Zuckermann, Sohn von Auschwitz-Überlebenden, Historiker und Kunsttheoretiker aus Tel Aviv, vertreten zwei Generationen jüdischer Linker, reflektierten ihre Erfahrungen mit der Welt der jüdischen Diaspora und dem modernen jüdischen Staat, der seit nunmehr 50 Jahren ein brutales Besatzungsregime unterhält. Sie sprachen über ihre Sicht auf das Land der Mörder von Millionen Juden, wo Neofaschisten bis heute weitgehend ungehindert agieren können – und in dem eine mehr als fragwürdige ›Israel-Solidarität‹ praktiziert wird, die sich immer aggressiver gegen kritische Juden richtet.«
Im Folgejahr, am 10. Juni 2017, sahen Esther und ich uns zu folgendem Brief an Moshe und die Teilnehmenden der Konferenz »50 Jahre israelische Besatzung«, die von Jutta Ditfurth und anderen Antideutschen diffamiert und gegen die mit dem Transparent »›Palästina‹, halt’s Maul!« demonstriert wurde, veranlasst (Palästina auf dem Transparent in Anführungszeichen!): »Lieber Moshe, ›Zur Zeit der Verleumder‹ überschrieb Erich Fried vor einem halben Jahrhundert ein Gedicht – nicht ahnend, dass zu den Verleumdern heute Leute gehören könnten, die nicht in der Lage zu sein scheinen, zwischen der Kritik an der israelischen Regierung und der Verteidigung von menschlichen Rechten auf Leben zu unterscheiden, sich darüber hinaus anmaßen, als Deutsche darüber zu entscheiden, wer als Jude zu akzeptieren ist. Dich, lieber Moshe, zitierend: ›Wer meint, den Antisemitismus bekämpfen zu sollen, vermeide es vor allem, Israel, Judentum und Zionismus, mithin Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik wahllos in seinen deutschen Eintopf zu werfen, um es, je nach Lage, opportunistisch zu verkochen und demagogisch einzusetzen.‹ Dir, den mit Dir Referierenden und mit Euch Diskutierenden solidarische Grüße!«
Moshe Zuckermann hat mich gestern gebeten, euch seinen Abschiedsgruß weiterzureichen: »Ich habe Esther geliebt. War zutiefst berührt von ihrer unerschütterlichen Lebensbejahung, bewunderte die große Leidenschaft ihrer schöpferischen Energie. Aber sie war mir auch Symbol – die Verkörperung der Möglichkeit, persönliches Lebensleid in freiheitliche Hingabe zu übersetzen, tiefe Humanität in politische Praxis umzusetzen.«
Die alte Welt zerbrechen
»Nichts verfälschen, nichts beschönigen, nichts unterschlagen« –Esther war Kommunistin wie Nissim, ihr Mann, neben den wir ihre sterbliche Hülle gleich betten werden, beide Kommunisten nicht als Parteigänger, sondern im Sinn von Heinrich Heine: »Sie ist schon seit langem gerichtet, verurteilt, diese alte Gesellschaft. Möge die Gerechtigkeit ihren Lauf nehmen! Möge sie zerbrochen werden, diese alte Welt, wo die Unschuld zugrunde ging, wo die Selbstsucht gedieh, wo der Mensch vom Menschen ausgebeutet wurde!«
Viel bleibt nachzutragen, wir werden uns im Hinblick auf die vor uns liegenden Aufgaben darüber austauschen.
Trauer über den Tod meiner großen Schwester – zugleich tief empfundene Dankbarkeit für alles, was sie mir und uns war und bleibt. »Presente« – wie es auf Kuba heißt, wo sie 2017 auf ihrer letzten großen Reise Solidaritätskonzerte gegen den seit 60 Jahren dauernden Boykott des Landes durch die USA gab: »Presente« – Esther, du bist und bleibst anwesend, bleibst bei uns.
In Liebe – dein kleiner Bruder.